Vorsicht bei dem Neuro-Präfix

Es gab eine Zeit, als das Präfix „Elektro-“ äußerst beliebt war und als nahezu „magisch“ galt – von Elektroplattieren und Elektromagnetismus über Elektrolyse bis zum Elektroschock, die Anzahl der Beispiele ist nahezu endlos. Aktuell erfreut sich nun die Vorsilbe „Neuro-“ einer großen Popularität.

Deshalb sollten Sie neueste Aussagen zu „magischen“ Neuro-Erkenntnissen mit Vorsicht genießen, besonders dann, wenn sie in Pressemitteilungen zu finden sind. Denn tatsächlich stimmen die aufgestellten Behauptungen nicht immer mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen überein. Die Pressemitteilungen der Institute zu den Entdeckungen ihrer Labore konzentrieren sich manchmal mehr auf eine gute Geschichte als die reine Wahrheit und können daher Fehler enthalten.

Vor drei Jahren hat eine Gruppe von britischen und australischen Forschern1 versucht nachzuvollziehen, wie aus Forschungsergebnissen aus dem Labor schließlich Behauptungen in Pressemitteilung werden. Dabei wurde das Ziel verfolgt, „die Quellen (Pressemitteilungen oder News) der Verzerrungen, Übertreibungen und Änderungen der wesentlichen Schlussfolgerungen der Forscher zu identifizieren, die potentiell Einfluss auf das Gesundheitsverhalten der Leser haben könnten.“ Hierfür analysierten die Forscher 462 Pressemitteilungen aus der biomedizinischen und gesundheitsbezogenen Forschung, die von 20 führenden (Russel Group) Universitäten des Vereinigten Königreichs im Jahr 2011 publiziert wurden, und die damit verbundenen peer-reviewten Forschungspapiere und Newsbeiträge. Für alle, die Wert darauf legen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer sachgemäß und richtig in der Öffentlichkeit dargestellt werden, sind die Ergebnisse der Gruppenuntersuchung beunruhigend.

Die Verfasser des Berichts haben belegt, dass bis zu 46 % der Pressemitteilungen der akademischen Institute übertriebene Behauptungen enthielten. 36 % der Pressemitteilungen, die sich mit Tierversuchen beschäftigten, leiteten aus den tierbezogenen Forschungsergebnissen überspitzte Schlussfolgerungen in Hinblick auf den Menschen ab. Wenn die Pressemitteilungen aus den Instituten selbst bereits Übertreibungen enthielten, dann beinhalteten 58 % der daraus resultierenden Presseberichte ebenfalls ähnliche Übertreibungen. Verzichteten die Pressemeldungen der Institute auf solche Überzeichnungen, waren es nur noch 17 %.

Das wichtigste Fazit der Autoren lautet: Übertriebene Behauptungen in der Wissenschaft sind im starken Maße auf falsche Informationen in Pressemitteilungen zurückzuführen, die von hoch angesehenen akademischen Institutionen veröffentlicht werden.

Am 7. November 2017 beschrieb Julia Bellux in einem Beitrag auf der Webseite Vox (www.vox.com), die sich mit Öffentlichkeit und Wissenschaft beschäftigt, wie fehlerhafte wissenschaftliche Informationen dem Nahrungsmittel Schokolade dazu verholfen haben, als gesundheitsfördernd wahrgenommen zu werden. Sie bezieht sich dabei unter anderem auf eine 2004 in Nature Neuroscience veröffentlichte Studie, die von dem Unternehmen Mars gesponsert wurde. Darin wurde behauptet, dass Flavonoide – Pflanzeninhaltsstoffe, die im Kakao zu finden sind – die Gedächtnisfunktion älterer Menschen steigern können. Insgesamt 37 Probanden nahmen an der Studie teil und wurden in vier Gruppen aufgeteilt. Die Forscher wollten herausfinden, ob Kakaoflevanol, Gehirntraining oder beides konkrete Auswirkungen auf Gehirnfunktionen haben. Dabei legten sie den Fokus auf ein bestimmtes Gehirnareal, den Gyrus dentatus, der insbesondere mit dem Gedächtnisverlust im Alter in Verbindung gebracht wird. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Gehirntraining keinen Effekt hat – im Gegensatz zum Konsum von Kakaoflevanol. Daraus ergab sich die Behauptung, „Kakao könne die altersbedingte Gedächtnisabnahme von nicht weniger als drei Jahrzehnten rückgängig machen.“ Die Nachrichtenredaktion der Columbia University behauptete, die Studie zeige, wie Flevanol in Nahrungsmitteln altersbedingte Gedächtnisschwäche rückgängig machen könne. Die Forschungsarbeit wurde dann von einigen Medien aufgegriffen, inklusive der New York Times, die herausposaunte, dass Schokolade – nicht nur der besagte Pflanzenstoff im Kakao – die das Gedächtnis verbessere.

„Da gibt es nur einen Haken. Die Studie hat nie belegt, dass Kakaozusätze die Gedächtnisabnahme verhindern können und vor allem nicht Schokolade. Die Fallzahl war zu klein, zu eng eingegrenzt und von zu kurzer Dauer, um uns wirklich etwas über das Nachlassen der Gedächtnisleistung im Alter zu verraten,” erklärte Henry Drysdale, Arzt und Mitglied im Oxford University’s Center for Evidence-Based Medicine.

Ein weiteres Beispiel: Am 9. November 2017 berichtete Dr. Ananya Mandal2 im Ressort Life Sciences von News Medical, dass ein Statement von der American Society of Clinical Oncology publiziert wurde, das Krebserkrankungen und Alkoholkonsum miteinander in Verbindung bringt – „Alkohol und Krebs: Ein Statement der American Society of Clinical Oncology”

„Das Statement soll die Öffentlichkeit über den Zusammenhang zwischen Alkoholmissbrauch und bestimmten Krebsarten informieren“, schrieb Dr. Mandal. Der Titel des Statements nimmt jedoch keineswegs Bezug auf den Missbrauch von Alkohol. Das Statement behauptet stattdessen, dass „mindestens 5,5 % der Krebserkrankungen in Verbindung mit Alkohol stehen.“ Lassen Sie sich diese hinterlistige Formulierung „steht in Verbindung“ auf der Zunge zergehen. Der gesamte Ton des Statements vermittelt Lesern, die nicht mit wissenschaftlichen Texten vertraut sind – also der Mehrheit der Bevölkerung – den Eindruck, dass es einen Kausalzusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Krebserkrankungen gibt.

Wir bei der Eicke Leadership Academy möchten bei der Anwendung von Erkenntnissen der Neurowissenschaft im Unternehmenskontext den höchstmöglichen Standards gerecht werden. Deshalb ein Tipp an alle, die von angewandten Neurowissenschaften fasziniert sind: Seien Sie vorsichtig mit Behauptungen von Experten. Insbesondere, wenn einem Begriff das Präfix „Neuro-“ hinzugefügt wurde. In der Wissenschaft kommt es natürlich auf Sorgfalt und Gründlichkeit an. Manchmal hat die nachlässige wissenschaftliche Berichterstattung jedoch die lautere Stimme.

© 2017 P T Brown

Von P.T. Brown PhD, Faculty Professor – Applied Neuroscience, Monarch Business School Switzerland; Chairman, Global Leaders/Executive Coaching Vietnam; Chairman of The ION Partnership (International Organisational Neuroscience); guest lecturer at the Fulbright EconomicsTeaching Program in HCMC; faculty at UK’s Royal college of Defence Studies; clinical and organisational psychologist and executive coach and supervisor. Co-author of „Neuropsychology for Coaches“, „Neuroscience for Leadership“ and „The Fear-Free Organization“.